No items found.
Zurück

Ein Land im Fokus: Syrien

14
March
2025

Ein Land im Fokus: Syrien betrachtet, warum Männer, Frauen und Kinder gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen und welche Strapazen sie auf ihrer Flucht ertragen mussten, bevor sie von der Ocean Viking gerettet wurden.

Zurück

Ein Land im Fokus: Syrien

14
March
2025

Heimatland

Rettungsdatum

Alter

Ein Land im Fokus: Syrien betrachtet, warum Männer, Frauen und Kinder gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen und welche Strapazen sie auf ihrer Flucht ertragen mussten, bevor sie von der Ocean Viking gerettet wurden.

Willkommen zu unserer neuen Serie aus Fachartikeln namens "Ein Land im Fokus". Seit 2016 hat SOS MEDITERRANEE insgesamt 41.383 Menschen aus beinahe 50 verschiedenen Ländern aus Seenot gerettet. Diese Berichte geben einen Einblick darüber, warum Männer, Frauen und Kinder gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Außerdem wird aufgezeigt, welche Strapazen sie auf ihrer Reise ertragen mussten, bevor sie von der Ocean Viking gerettet wurden.

2024 konnte die Ocean Viking insgesamt 1.948 Menschen retten. Ein Drittel von ihnen stammt aus Syrien. Darunter waren unbegleitete Minderjährige, Frauen und ganze Familien sowie Senioren. Viele der Geretteten berichteten von Krieg, Gewalt und Hunger in ihrem Heimatland und den gefährlichen Routen, die sie nehmen mussten, um zu überleben. Einige dieser Reisen dauerten Monate oder sogar Jahre. Hamza* [1], Ranim*, Mouna*, Khaled*, Hussein, Mohammad und Majd erzählten uns während ihrer Zeit an Bord ihre bewegenden Geschichten.

Was mussten sie in Syrien erleben? Warum sind sie in den Libanon, den Irak, nach Ägypten oder Libyen geflüchtet? Wie haben sie Folter und Gewalt überlebt, bevor ihnen keine Möglichkeit mehr blieb, außer den lebensgefährlichen Weg über das Meer zu nehmen?

'Ein Land im Fokus: Syrien“ gibt Antworten auf diese Fragen.

Während der Erstellung dieses Berichts wurde das Regime von Bashar al-Assad nach 24 Jahren an der Macht gestürzt. Am 8. Dezember 2024, nach der Einnahme der syrischen Hauptstadt Damaskus durch die Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), floh der ehemalige Präsident nach Russland. Seitdem hat die HTS eine Übergangsregierung unter der Führung von Interimspremierminister Mohammed al-Baschir eingesetzt.

Nach dem Sturz des Regimes haben viele Syrer*innen begonnen, in ihre Heimat zurückzukehren - mit großen Hoffnungen trotz einer ungewissen Zukunft.

In der Zwischenzeit haben mehrere europäische Länder die Asylanträge für Syrer*innen ausgesetzt, sowohl für diejenigen, die bereits versuchen, sich in ihrem Gastland ein neues Leben aufzubauen, als auch für diejenigen, die derzeit ihr Leben bei dem Versuch riskieren, das Mittelmeer zu überqueren. Die in diesem Bericht enthaltenen Zeugenaussagen und Erkenntnisse von Experten wurden vor dem Sturz des Regimes von Bashar al-Assad gesammelt. Die Geschichten der Überlebenden erzählen von den schwierigen Entscheidungen, die sie zur Überquerung des Mittelmeers veranlassten, von der Gewalt, die sie ertragen mussten, und von der Hoffnung, die sie am Leben hielt.

Expert*innenanalyse:

In einem Interview mit SOS MEDITERRANEE im Oktober 2024 sagte Marta Bellingreri, eine arabischsprachige Journalistin und Chefredakteurin von SyriaUntold [2]:

Syrien ist in den letzten dreizehn Jahren von einem der grausamsten Konflikte unserer Zeit erschüttert worden. Was ursprünglich als friedliche Revolution für Rechte, Freiheit und Menschenwürde begann, wurde vom Assad-Regime und seinem Überwachungsapparat brutal niedergeschlagen. Bald darauf eskalierte der Konflikt zu einem internationalen Krieg, in den sich Staaten wie die Türkei oder Katar einmischten, während das Regime mit Unterstützung des Iran und der Hisbollah an der Macht blieb. Die Hälfte der syrischen Bevölkerung aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg hat ihre Heimat verloren, fünf Millionen Menschen mussten ins Ausland fliehen, viele von ihnen in Nachbarländer wie die Türkei, Libanon und Jordanien. Die syrische Bevölkerung leidet weiterhin - sowohl im Inland als auch im Ausland. In den letzten vier Jahren hat eine schwere Wirtschaftskrise, die durch den Klimawandel und einer Nahrungsnot noch verschärft wurde, die Armut massiv weiter verschlimmert. Heute sind 90 % der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen, insbesondere die im eigenen Land vertriebenen Bevölkerungsgruppen“.

Nach dem Sturz von Assad im Januar 2025 ergänzte sie:

Als der Diktator am 8. Dezember 2024 aus Syrien floh, endeten die 54 Jahre Diktatur durch Assad- Familie. Millionen von Syrer*innen feierten diesen historischen Moment, doch die Zukunft bleibt ungewiss. Während viele auf eine bessere Zukunft hoffen, beschlossen einige europäische Länder weniger als 24 Stunden nach dem Regimewechsel, die Asylanträge syrischer Flüchtlinge auszusetzen. Gleichzeitig können viele Syrer*innen im Exil ihr Heimatland nicht besuchen, da sie keinen gültigen Reisepass besitzen.

Mit eigenen Worten: Die Gründe, warum die Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden:


Hamza*, 30, wurde im Verwaltungsbezirk Rif Dimashq geboren. Er wurde am 17. Juli 2024 gerettet.

„Ich möchte euch erzählen, wie es war, als der Krieg in Syrien begann.  

„Ich kenne die Geschichte eines kleinen Jungen, der 2010 eine Botschaft gegen Bashar al-Assad an die Wand seiner Schule gesprüht hat. Die Schule meldete ihn dem Geheimdienst, der ihn daraufhin festnahm. Die Familie forderte, ihr Kind sehen zu dürfen, und bekam seinen Leichnam zurück. Er wies Folterspuren auf, und seine Genitalien waren zusammengebunden worden, damit er nicht mehr urinieren konnte. Als die Menschen davon erfuhren, begannen sie zu protestieren, und die Unruhen dehnten sich auf andere Städte aus. Die Polizei nahm teilnehmende Jugendliche fest verprügelte sie und kreuzigte sie anschließend, um die Aufstände zu beenden.

Auf die Teilnehmer der Proteste wurde geschossen. Sie brachen in die Häuser von Familien ein und vergewaltigten die Frauen vor den Augen ihrer Familienangehörigen, sofern sie sie finden konnten. Wenn man sich wehrte, nahmen sie einem die Familie weg und brannten das Haus nieder. Doch all dies heizte die Unruhen nur noch mehr an.  

„Die Aufständischen waren nicht organisiert, ebenso wenig die Behörden. Im ganzen Land gab es viele Tote. Die Regierung bat die Hisbollah um Hilfe, um die Gewalt einzudämmen, und lieferte mehr Waffen an die Zivilbevölkerung, um einen Konflikt zwischen ihnen und nicht gegen die Regierung zu provozieren. Sie beschuldigten Familien zu Unrecht und wussten auch, wann die Familien während des Ramadans zu Hause waren. Sie nutzten diese Zeit, um in ihre Häuser einzudringen und sie zu töten. Wenn die Menschen versuchten, sich zu verstecken oder zu fliehen, wurden die Häuser bombardiert und die Betroffenen erschossen. Auch Hunger wurde als Waffe eingesetzt. Ein Kilo Reis kostete so viel wie ein Auto. Einer meiner Cousins wurde getötet, als er Reis kaufen wollte, einfach so. Sowohl die Regierung als auch die Rebellengruppen drängten meinen Vater und mich, uns ihnen anzuschließen. Aber wir wollten nicht kämpfen.  

„Im Jahr 2012 beschloss meine Familie, in den Libanon zu flüchten. Zur gleichen Zeit desertierte mein Bruder, der in der Armee war. Er wurde gezwungen, in sein eigenes Dorf zu gehen und Menschen zu töten. Aber er weigerte sich, das zu tun. Sie bombardierten seine Heimat, also musste er fliehen. Er zahlte seinem vorgesetzten Offizier 3.000 Dollar, damit er 24 Stunden Zeit hatte, bevor dieser die Behörden über seine Fahnenflucht informierte.“

Ranim*, 27, stammt aus Raqqa. Sie wurde am 9. Juli 2024 zusammen mit ihren beiden 8-jährigen Zwillingen von einem überfüllten Holzboot gerettet.

Ranim* und ihre Kinder lebten zwischen 2014 und 2017 drei Jahre lang unter der Herrschaft des Islamischen Staates. „Es war eine Herrschaft des Terrors. Ich konnte das Haus nicht verlassen, ohne komplett bedeckt zu sein, einschließlich meiner Augen. Wenn ich das Haus ohne meine Burka verliess, wurde mein Mann bestraft und ins Gefängnis gesteckt. Es war unmöglich, zu entkommen - es war zu gefährlich.“    

Khaled*, 15, stammt aus Deraa. Er war allein unterwegs und wurde am 24. Oktober 2023 von der Besatzung der Ocean Viking gerettet.

„Ich komme aus Deraa in Syrien. Ich wurde 2008 geboren. Nachdem der Krieg in Syrien angefangen hatte, zogen meine Eltern, meine beiden Schwestern und ich nach Deutschland, wo ich von 2013 bis 2016 blieb. Meine Eltern dachten, dass die Situation in Syrien nach ein paar Jahren besser sein würde, also gingen wir wieder zurück.

„Aber wir können nicht in Deraa leben. Mein Land ist wegen des Krieges in einem sehr schlechten Zustand, und jeden Tag werden dort sehr viele Menschen getötet. Es gibt dort keine Zukunft für mich. Deshalb habe ich beschlossen, Syrien zu verlassen, obwohl meine Eltern versucht haben, mich davon abzuhalten. Schließlich haben sie zugestimmt, und ich bin mit meinem Cousin gegangen. Ich bin über Ägypten nach Libyen gereist.“

Mouna* ist 53 Jahre alt und wurde in Damaskus geboren. Sie wurde am 31. Juli 2021 von der Besatzung der Ocean Viking aus einem kleinen Holzboot in Seenot gerettet.

„Ich wollte Damaskus nicht verlassen. Zwei meiner Söhne sind wegen des Krieges aus Syrien nach Libyen geflohen. 2014 hat jemand meine 17-jährige Tochter bei einer friedlichen Demonstration fotografiert. Sie wollten sie verhaften. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wichtig meine Tochter für mich ist.  

„Mein Mann blieb in Syrien. Eines Tages schlug eine Rakete in unser Haus in Damaskus ein. Zum Glück wurden die Bewohner rechtzeitig gewarnt, und mein Mann befand sich ebenfalls nicht im Haus. Nach dem Raketenangriff beschlossen wir, dass auch mein Mann nach Libyen kommen sollte.»  

Hussein*, 56, stammt aus Hama. Er wurde am 9. Juli 2024 gerettet.

„In meinem Land haben wir zwei Kriege erlebt. Der erste ist der, den Sie alle kennen und von dem Sie gehört haben. Aber ich möchte nicht über den ersten Krieg sprechen. Es ist zu schmerzhaft, sich daran zu erinnern. Dieser Krieg ist jetzt in meiner Stadt vorbei. Heute führen wir einen anderen Krieg: Hunger. Er ist wie ein Feuer, das alles und jeden verbrennt.“  

In Syrien hat Hussein* studiert und jahrelang als Krankenpfleger gearbeitet, ebenso wie seine Frau, eine Krankenschwester für Herzchirurgie, die in Syrien geblieben ist. „Heute beträgt das Gehalt einer Krankenschwester 15 Dollar im Monat.“ Seine beiden ältesten Kinder sind Ärzte. „Sie sind auch in Syrien geblieben, arbeitslos, weil es einfach unmöglich ist, einen Job zu finden.  

Vor ein paar Jahren beschloss Hussein*, sein Glück zu versuchen und eine Sprachschule in seiner Stadt zu eröffnen, um seine Familie zu unterstützen und die Universitätsausbildung seiner jüngeren Kinder zu finanzieren. Aber es funktionierte nicht. „Niemand konnte die Sprachkurse bezahlen, und ich konnte weder die Gehälter der Lehrer noch die Miete für die Schule aufbringen.“ Er musste die Schule schliessen. Also beschloss er zu gehen: „Niemand in meiner Stadt - zumindest niemand, den ich kenne - hatte diese Reise je unternommen. Ich wusste nicht, wie furchtbar gefährlich das sein konnte, aber ich war verzweifelt, also habe ich es getan.

Die Migrationsrouten und die Aufnahmeländer: Das Beispiel Libanon

Wie Marta Bellingreri erklärte, flohen viele Syrer*innen zunächst in Nachbarländer wie den Libanon, den Irak, Ägypten, die Türkei und Jordanien. Die meisten der 2024 geretteten Überlebenden erzählten dem Team von SOS MEDITERRANEE, dass sie monatelang oder jahrelang im Libanon blieben, bis sich die Situation dort verschlechterte und sie keine andere Wahl mehr hatten, als erneut in weiter entfernte Länder weiterzuziehen.

Hamza*: „Wenn Menschen aus Syrien in den Libanon fliehen, werden sie an der Grenze kontrolliert und oft gedemütigt. Wir sind schon seit 10 Jahren im Libanon. Aber die Situation ist schwierig. Es gibt viele Diskriminierungen von Libanes*innen gegenüber Menschen aus Syrien. Manchmal lassen sie Menschen auf einem Friedhof Gräber ausheben, um sie dann lebendig zu begraben. Nicht um sie zu töten, sondern um ihnen Angst zu machen. Ohne gute Beziehungen zu den Menschen vor Ort hat man keine Chance. Ich war mit meiner Familie im Libanon. Ich habe eine Frau und zwei Kinder - einen Sohn und eine Tochter.  

„Die Leute sagten uns, dass wir, wenn wir in Not seien, zu den Vereinten Nationen gehen sollten. Aber als wir das taten, mussten wir feststellen, dass die UN-Mitarbeiter*innen vor Ort Libanes*innen waren und ebenfalls an die Rassentrennung glaubten. Sie wollten uns nicht helfen, weil wir aus Syrien kamen. Verschiedene Gruppierungen bedrohten uns, und wir konnten kein normales Leben führen. Oft konnte ich meine Medikamente nicht bezahlen. Mehrmals wurde mir am Ende des Monats kein Lohn ausgezahlt. Wenn ich für meine Arbeit bezahlt worden wäre, wäre ich im Libanon geblieben.  

„Meine Familie floh 2022 in den Irak, weil wir im Libanon nicht mehr leben konnten. Wir haben uns von jemandem Geld geliehen, um entkommen zu können. Im Irak ist alles ganz anders, besser als im Libanon. Aber ich habe zu wenig Geld verdient, um zu überleben. Meine Frau und meine Kinder sind immer noch im Irak, aber ein Freund hat für meine Flucht nach Europa bezahlt.“

Ranim* ließ sich nach der Befreiung von Raqqa von ihrem Mann scheiden und flüchtete nach Beirut. „Mit meinen beiden Kindern allein in Syrien zu leben, war sehr schwierig. Meine Eltern waren bereits in Beirut, also beschloss ich, zu ihnen zu gehen. Ich verbrachte fünf Jahre im Libanon.“ Anfang 2024 verliess sie den Libanon mit ihren Zwillingen, nachdem ihr die Familienzusammenführung mit ihrem Bruder in den Niederlanden verweigert worden war. „Mein kleiner Bruder lebt in den Niederlanden, und wir haben eine Familienzusammenführung beantragt. Meine Eltern und ich bekamen die Genehmigung zur Zusammenführung mit meinem Bruder, aber meine Kinder überraschenderweise nicht. Ich konnte sie nicht zurücklassen und auch nicht allein im Libanon bleiben, ohne die Unterstützung meiner Familie. Ich hatte keine andere Wahl, als mich auf eine gefährliche Reise zu begeben und nach Benghazi in Libyen zu fliegen.

Von Gewalt in Gewalt: Instabilität im Nahen Osten und die Reise nach Libyen

The Outlaw Ocean Project / Pierre Kattar

Im Laufe der Jahre hat SOS MEDITERRANEE zahlreiche Erfahrungsberichte gesammelt, die durch Berichte mehrerer NGOs und UN-Organisationen [3] bestätigt werden und zeigen, dass Menschenrechtsverletzungen und -missbrauch im zentralen Mittelmeerraum und entlang der Migrationsroute, insbesondere in Libyen, nach wie vor an der Tagesordnung sind. Inhaftierung unter menschenunwürdigen Bedingungen, Erpressung unter Anwendung von Folter, Hinrichtungen im Schnellverfahren, Zwangsarbeit und sexuelle Gewalt kommen in Haftanstalten und Arbeitslagern, an Kontrollpunkten und sogar in Privathäusern vor. Solche Misshandlungen können jeden treffen - Frauen und Mädchen, Männer und Jungen. Gewalt wird häufig von Milizen, der Polizei, Schmugglern und der Küstenwache eingesetzt, um Geld zu erpressen. Die Überlebenden werden häufig wiederholt von mehreren Tätern missbraucht und haben kaum eine Chance auf Gerechtigkeit.    

Hamza*: „Ich ging nach Tripolis. Eines Tages stand ich mit einem Fuss auf dem Bürgersteig und mit dem anderen auf der Strasse. Ein Auto wich aus und fuhr mich an. Es hat nicht angehalten, und ich bin sicher, dass es das mit Absicht getan hat. Das Krankenhaus war ganz in der Nähe, aber als ich dort ankam, weigerten die Ärzte sich, mir zu helfen. Also ging ich an einen anderen Ort, wo man mir dann half. Danach sprach mich ein Schmuggler an, während ich in einem Café auf der Straße etwas trank. Er sagte, er könne mir für 6.000 Dollar helfen. Der Mann brachte mich zu einem Haus mit Containern auf der Rückseite. Dort verbrachte ich einen Monat. Wir hatten kaum Essen und Wasser, und er nahm uns unsere Telefone ab.  

Mouna*: „Wir sind alle in Libyen geblieben. Meine Tochter hat dort einen Syrer geheiratet. Eines Tages, als mein Schwiegersohn arbeitete, wurde er von Männern angegriffen, die wie Milizen bewaffnet waren. Sie schossen ihm in den Rücken.

„Kurz darauf wurden mein Mann und mein jüngerer Sohn entführt. Die Entführer verlangten Lösegeld. Sie brachten meinen Sohn und meinen Mann zu uns zurück, aber Sie hätten sehen sollen, in welchem Zustand sich die beiden befanden. Sie waren blutüberströmt. Wir bekamen Angst und gingen nach Tripolis und versteckten uns im Herzen der Hauptstadt.  

„In Libyen gibt es keine Medikamente - es gibt keine Gesundheitsvorsorge. Wir haben unser ganzes Geld ausgegeben, um meinen Schwiegersohn medizinisch versorgen zu lassen, und sie haben ihn einfach sterben lassen. Wir haben uns an die örtlichen UN-Organisationen gewandt, ihnen alles erzählt und versucht, ihn in Ägypten oder Tunesien behandeln zu lassen, aber sie sagten: 'Nein, bleibt in Libyen'.  

„Wenn ich nach Syrien zurückkehre, werde ich am Flughafen verhaftet, weil meine Söhne vor dem Militärdienst dessertiert sind. Sie würden mich verhaften, um meine Kinder unter Druck zu setzen, damit sie zurückkommen.“

Ranim* und ihre Zwillinge verbrachten drei Monate in Libyen. Sie wurden in einem „Gemeinschaftshaus “ unter entsetzlichen Bedingungen untergebracht. „Ich bekam nur eine Mahlzeit pro Tag.“ Die drei mussten lange warten, bis sie endlich ein Boot besteigen konnten, um Libyen verlassen zu können.  

Hussein* verliess sein Land Anfang Mai, um in den Libanon und anschliessend nach Europa zu reisen, wobei er zunächst Ägypten durchquerte und von dort nach Benghazi in Libyen flog. Nachdem Schleuser ihn nach Benghazi gebracht hatten, wurde er zusammen mit fünf anderen Personen auf dem Rücksitz eines Pickups 1400 km nach Tripolis gefahren, versteckt unter schwerem Gepäck in der sengenden Sonne.  

Er wurde 60 Tage lang in einem Lager in Tripolis mit etwa 80 anderen Menschen festgehalten: „Ich musste auf einer schmutzigen Matratze auf dem Boden schlafen, und das Einzige, was ich jeden Tag zu essen bekam, war Thunfisch. [...] Die Schleuser wandten keine Gewalt gegen mich an, aber ich wurde Zeuge davon. Ich erinnere mich, wie sie eines Tages kamen und buchstäblich auf den schlafenden Menschen am Boden herumtrampelten, so als wären sie Kichererbsen.“  

Er konnte nicht mehr rausgehen: „In Libyen sind Syrer*innen eine Zielscheibe - die Kriminellen und Schlepper halten uns für wohlhabender als die Menschen aus anderen Ländern, deshalb entführen sie uns und verlangen Lösegeld von unseren Familien, weil sie wissen, dass sie zahlen können. Dort drüben werden Menschen nicht als Menschen betrachtet. Sie sind nur Geld - sie sind ein Wirtschaftsgut.“    

Der letzte Ausweg, um zu überleben: die Flucht über das Meer

Einen Satz, den die Crew immer wieder an Bord der Ocean Viking hört ist: „Ich sterbe lieber schnell auf dem Meer als langsam in Libyen. „Ungeachtet der Gefahren fliehen die Menschen über das Meer, weil es der einzige Weg ist, um aus Libyen zu entkommen.

Mouna*, Hamza*, Ranim* und Khaled* erzählen uns von ihren Erfahrungen.

Hamza*: „Viele Syrer steigen in Boote, die in einem sehr schlechten Zustand sind, mit defekten Motoren. Nach 20 km sinkt das Boot und die Menschen werden dem Tod überlassen.“

Khaled*: „Ich habe sieben Mal versucht, aus Libyen zu fliehen, bevor ihr uns mit der Ocean Viking gerettet habt. Das erste Mal war auf einem Fischerboot im östlichen Teil des libyschen Staatsgebiets, nachdem wir die Grenze von Ägypten aus überquert hatten, aber die libysche Küstenwache drängte uns zurück und wir wurden ins Gefängnis zurückgeschickt, weil die Milizen und Menschenhändler mit den Behörden befreundet sind.  

„Das zweite Mal versuchte ich im Juni 2023 von Tobruk aus zu entkommen. Ich wollte auf ein grosses Fischerboot gehen, wo 900 Menschen darauf warteten, an Bord gehen zu können. Ich konnte nicht mitfahren, da es zu viele Menschen waren und es keinen freien mehr Platz gab. Aber mein Freund konnte mitfahren. Das Schiff lief aus... wissen Sie, das ist das Schiff, das vor Griechenland gesunken ist [die Adriana]. Mein Freund ist bei diesem Schiffsunglück gestorben.“

Ranim*: „Es gibt jetzt viele libysche Polizeikräfte auf See. Als wir an Bord gebracht wurden, hatten wir keine Schwimmwesten. Ich wusste, dass die Überfahrt gefährlich war. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich hatte Angst, aber ich musste für meine Kinder stark sein. Ich möchte bei meinen Eltern sein, und ich möchte, dass meine Kinder eine anständige Zukunft haben.“

Mouna*: „Meine Kinder in Libyen haben selbst kleine Kinder. Sie sollten das Meer nicht überqueren müssen. Aber ich bin krank, und wenn ich nicht gehe, werde ich sowieso sterben. Also habe ich beschlossen, zu gehen. Ich gab dem Schlepper 2.500 Dollar für meinen ersten Versuch, aber die libysche Küstenwache hielt uns auf. Dann steckten sie mich ins Gefängnis. Worte können nicht beschreiben, wie es dort war. Sie wollten 200 Dollar, um mich freizulassen. Dieses Gefängnis...  

„Ich sagte mir: 'Ich habe genug, ich gehe zurück aufs Meer. Die Schleuser hatten uns zwei Motoren, ein Satellitentelefon, GPS und Schwimmwesten versprochen. Es gab jedoch nichts davon. Sie versprachen, uns das alles zu geben, sobald wir auf See sind. Sie drängten uns einfach weiter und waren alle bewaffnet. Irgendjemand muss zu langsam gewesen sein oder sie irgendwie verärgert haben, denn einer von ihnen schüttete das Wasser einfach auf den Boden und sagte: „Kein Wasser für euch“.  

Nach vier Stunden auf See fing der Motor einfach an zu brennen. Er fing Feuer und mein Bein wurde verbrannt. Es gelang uns, das Feuer zu löschen, und ein Mann auf dem Boot brachte den Motor für eine Weile wieder zum Laufen, aber wir konnten nur noch im Kreis fahren. Das Boot nahm Wasser aufun vermischt sich mit Treibstoff. Nach 10 Stunden konnten wir Ölplattformen sehen. Wir schrien und winkten, und dann sahen wir euch hinter uns. Wir dachten, ihr wärt die libysche Küstenwache, aber wir sagten: „Wir sterben sowieso - wir haben kein Wasser. Wenn sie kommen, lasst sie kommen.' Aber ihr wart es tatsächlich.  

„Ich musste das Meer überqueren, weil ich leben will. Ich möchte meine Enkelkinder aufwachsen sehen. Sie nennen mich ihre 'liebe Oma'. Wenn du deine Mutter siehst, gib ihr eine Umarmung und einen Kuss.“  

Fazit  

Vor dem Sturz von Assad erklärte Marta Bellingreri folgendes:

„Im Jahr 2023 lösten die Erdbeben in der Türkei und in Syrien eine weitere schwere Krise aus, aber sie zeigten auch, dass es trotz all dem Leid, den hohen Lebenshaltungskosten und der anhaltenden politischen Unterdrückung immer noch Solidarität unter den Menschen in Syrien gibt. Im selben Jahr zeigte auch eine Bürgerbewegung in der südlichen Stadt Sweida, die wirtschaftliche sowie politische Rechte und Freiheiten forderte, dass der Geist der Revolution noch nicht völlig zerschlagen wurde. Doch die überwiegende Mehrheit der Menschen würde, wenn sie nur die geringste Chance dazu bekäme, das Land verlassen, und die Zahl der Syrer*innen, die 2023 und 2024 auf dem Seeweg nach Europa gelangten, ist der Beweis dafür, dass der brutale Diktator, der behauptet, er habe gesiegt, keines der Probleme der Bevölkerung gelöst hat und dass das Regime nur dank seiner Verbündeten weiter überleben konnte.“  

Nach dem Sturz des Regimes haben mehrere europäische Regierungen die Aussetzung von Asylanträgen für Syrer angekündigt, auch für diejenigen, die die Überfahrt über das Mittelmeer unternommen haben.

Diese Entscheidung hat heftige Debatten über die Sicherheit von zurückgekehrten Personen ausgelöst und darüber, ob Syrien in der Lage ist, seine vertriebenen Bürger*innen wirksam zu reintegrieren. Der UNHCR hat sich positioniert, indem es die Staaten aufforderte, das Recht der syrischen Antragsteller*innen auf Asyl zu garantieren, und betonte, dass der Schutz bis zur Stabilisierung der Lage in Syrien aufrechterhalten werden müsse.

Der Sturz des Regimes von Bashar al-Assad im Dezember könnte möglicherweise zu erheblichen Veränderungen in der Dynamik der syrischen Migration über das Mittelmeer führen. Wie wir am Ende dieses Berichts feststellen, sind solche Veränderungen jedoch noch ungewiss und hängen von den sich abzeichnenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen ab. Was auch immer geschieht, SOS MEDITERRANEE wird diese Arbeit fortsetzen, die Situation beobachten und Leben auf See retten.

Video Credits:

Filmmaterial von Charles Thiefaine / SOS MEDITERRANEE
Ocean Viking Drohnenaufnahmen von Tess Barthes / SOS MEDITERRANEE
Drohnenaufnahmen aus dem Gefangenenlager Al Mabani von The Outlaw Ocean Project | Pierre Kattar

[1] * Die Namen wurden geändert.
[2] Mehr über Syrien von Marta Bellingreri auf X (@MartaDaphne) und Instagram (@marta_bellingreri)
[3] Einige der aktuellsten sind:

AKTUELLES

Menschen berichten
13.3.2025

Ich habe mehrfach einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt

Suad*, 23 Jahre alt, stammt aus Syrien. Während einer Patrouille in der libyschen Such- und Rettungsregion hörte die Ocean Viking mehrere Notrufe über UKW-Funk. Die Notrufe wiesen auf ein Boot in Seenot hin, das sofortige Hilfe benötigte. Am 12. Dezember 2024 wurde Suad* gemeinsam mit 33 weiteren Überlebenden aus einem überfüllten Schlauchboot in internationalen Gewässern vor Libyen gerettet.
Menschen berichten
Menschen berichten
10.3.2025

Die ganze Welt hat uns in Afghanistan vergessen

Asmaan* und Moska* wurden am 15. Dezember 2024 zusammen mit 128 anderen Überlebenden in einer schwierigen Rettung aus Seenot evakuiert. Sie befanden sich im Ionischen Meer nahe der italienischen Küste auf einem 15-Meter langen seeuntüchtigen Fischkutter aus Stahl. Die Überlebenden berichteten unseren Teams, dass sie zwischen dem 8. und 9. Dezember von Izmir in der Türkei aus aufbrachen und bis zu sechs Tage auf See waren.
Menschen berichten
News
9.3.2025

Einsatzbericht 5/25 der Ocean Viking - 25 gerettete Personen

25 Menschen wurden nach einem Notruf von Alarm Phone aus Seenot gerettet. Als sicherer Hafen wurde Marina di Carrara zugewiesen.
News

BLEIB INFORMIERT

Abonniere jetzt unseren Newsletter für Einblicke in die Rettungseinsätze der Ocean Viking, Einladungen zu Aktionen und aktuellen Infos zur Lage im Mittelmeer!

Mit dem Klick auf Abonnieren bestätigst Du, dass Du unseren Datenschutzerklärung zustimmst.
Vielen Dank für Deine Anmeldung! Wir freuen uns darauf, Dich mit unseren Neuigkeiten und Updates zu versorgen.
Oops! Something went wrong while submitting the form.