Jeder Rettungseinsatz der Ocean Viking wird von einem vierköpfigen medizinischen Team begleitet, welches die medizinische und psychologische Erstversorgung der Geretteten an Bord übernimmt. Zwischen 2016 und 2020 kooperierte SOS MEDITERRANEE hierfür mit Ärzte ohne Grenzen (MSF). Seit 2021 besteht eine Partnerschaft mit der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Halbmondgesellschaften (IFRC), die nun das medizinische Personal an Bord Ocean Viking stellt. In der Regel beginnt die Arbeit des medizinischen Personals in dem Moment, in dem die Geretteten die Ocean Viking betreten. In einigen Fällen leistet die Besatzung jedoch bereits auf den Schnellbooten (RHIBs) Erste Hilfe.

Das medizinische Team an Bord

Das medizinische Team an Bord besteht aus einem/einer Teamleiter*in, einer Hebamme, einem/einer Krankenpfleger*in sowie einem/einer Ärzt*in. Das Team an Bord wird von einem/einer Koordinator*in an Land betreut.  

Der/die Teamleiter*in an Bord koordiniert alle medizinischen Aktivitäten. Dazu gehören Erste-Hilfe-Maßnahmen, psychologische Erstbetreuung, Versorgung und Pflege von schweren Krankheitsfällen oder Verletzungen, sowie eine spezialisierte Unterstützung von Frauen (z.B. gynäkologische Betreuung) und Kindern an Bord. Jeder medizinische Fall muss erkannt, sorgfältig eingestuft und behandelt werden.  

Ablauf einer Rettung aus Sicht des medizinischen Teams

Schritt 1: Vorbereitung für die Evakuierung

Sobald die Durchsage “Ready for Rescue” (deutsch: “Bereit zur Rettung”) ertönt, wird alles an Bord für die medizinische Erstversorgung eingerichtet. Das medizinische Team legt Schutzkleidung an und bereitet Erste-Hilfe-Maßnahmen vor.  

Schritt 2: Übermittlung der wichtigsten Informationen

Die Besatzung auf den Schnellbooten teilt dem medizinischen Team per Funk die wichtigsten Informationen über die sich in Seenot befindlichen Menschen mit. Dazu gehört zum Beispiel die Anzahl der Personen, die Präsenz von Kindern, Frauen oder Schwangeren, sowie eine Ersteinschätzung des Gesundheitszustands der Überlebenden.

Schritt 3: Gesundheitscheckup

An Deck wird überprüft, ob die Geretteten in der Lage sind zu gehen, zu sprechen und Anweisungen zu verstehen. Oft stehen Überlebende zunächst unter Schock. Nach der Ankunft an Bord beurteilt das medizinische Team daher den Gesundheitszustand jeder einzelnen Person: Ist die Person unterkühlt? Ist sie dehydriert? Hat sie (sichtbare) Wunden? Gibt es Verätzungen durch Treibstoff und Salzwasser? Wenn das Team sich einen ersten Überblick verschafft hat, wird über die nächsten medizinischen Schritte entschieden. Wenn eine sofortige medizinische Behandlung erforderlich ist, greifen Ärzt*in und Krankenpfleger*in sofort ein.

Zu den am häufigsten behandelten Beschwerden an Bord der Ocean Viking gehören Seekrankheit, Kopfschmerzen, oberflächliche Wunden und Hautinfektionen.  

Schritt 4: Duschen, Wunden desinfizieren und Infektionen verhindern

Anschließend haben die Überlebenden die Möglichkeit zu duschen. Treibstoffverätzungen und andere oberflächliche Wunden treten häufig auf und müssen gründlich gereinigt werden, um Infektionen zu verhindern. Die Möglichkeit sich zu waschen ist für viele Gerettete ein wichtiger Schritt, um ein kleines bisschen Normalität wiederzuerlangen, nachdem sie teilweise tagelang unter schlimmsten Bedingungen auf dem offenen Meer unterwegs waren.

Schritt 5: Betreuung

In der Regel sind die geretteten Personen übermüdet und ruhen sich zunächst aus, da sie nach langer Zeit zum ersten Mal an einem Ort sind, an dem sie keine Angst um ihr Leben mehr haben müssen. Die Bordklinik ist in den folgenden Tagen bis zur Anlandung der Geretteten stets geöffnet: rund um die Uhr können Überlebende medizinische Konsultationen wahrnehmen. Gleichzeitig werden schwerwiegende medizinische Fälle engmaschig betreut. Schwangere Frauen und kleine Kinder von einer Hebamme begleitet.  

Verschiedene Rettungsszenarien

Jede Rettung läuft unterschiedlich ab, eine medizinische Erstversorgung ist aber bei fast allen Geretteten nötig. Häufig ist der Gesundheitszustand der Überlebenden bereits vor der Überquerung des Mittelmeers nicht gut. Viele Menschen auf der Flucht hatten monate- oder gar jahrelang keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Entlang der Migrationsrouten sind sie häufig Gewalt und Misshandlungen ausgesetzt, vor allem in Libyen. Die Überfahrt über das Mittelmeer schwächt die Überlebenden zusätzlich. Häufig treiben Menschen tagelang in seeuntauglichen Booten auf dem Meer, ohne ausreichende Nahrungsmittel oder Wasser. Zudem ist die Überfahrt für viele ein psychisch stark belastendes Ereignis.  

Wenn die Ocean Viking einem Notruf folgt, ist zunächst unklar, in welchem Zustand sich die Menschen in Seenot befinden. Das medizinische Team ist geschult, um in verschiedenen Rettungsszenarien schnell und professionell reagieren zu können.  

Im Idealfall erlauben die vorherrschenden Bedingungen bei einer Rettung dem medizinischen Team, alle Verletzten und Kranken ohne größere Komplikationen zu versorgen. Auch bei unkomplizierten Rettungen kann die Arbeitsbelastung für das Team jedoch hoch sein. Bis zur Anlandung der Geretteten an einem sicheren Ort kümmert sich das medizinische Team ununterbrochen um das Wohlbefinden der Überlebenden an Bord.

Kritische Rettung: Mass Casualty Plan

Das “kritische Rettungsverfahren” wird dann aktiviert, wenn sich die in Seenot geratenen Personen in einem besonders prekären Zustand befinden und das Rettungsteam schnell zusätzliche Maßnahmen ergreifen muss, um eine Katastrophe zu verhindern. In der Regel ist dies der Fall, wenn ein Boot in Seenot Luft verliert, zu sinken oder zu kentern droht und/oder wenn sich bereits Personen im Wasser befinden. Bei kritischen Rettungen können mehrere medizinische Notfälle gleichzeitig auftreten. Dies geschah zuletzt im März 2024, als die Teams der Ocean Viking 25 Personen aus Seenot rettete, die zuvor sieben Tage auf See verbracht hatten und sich in einem sehr vulnerablen Zustand befanden. Zwei Gerettete wurden bewusstlos evakuiert. 60 weitere Personen, die sich beim Aufbruch der Gruppe ebenfalls in dem Boot befanden, sind seitdem verschollen.

Wenn bei einem kritischen Rettungseinsatz mehrere Personen über Bord gegangen sind oder mehrere medizinische Notfälle gleichzeitig auftreten, wird der sogenannte “Mass Casualty Plan” aktiviert. Falls mehr als eine bewusstlose Person reanimiert werden muss, wird die gesamte Besatzung mobilisiert, um Erste Hilfe zu leisten. Der Schutzraum für Frauen an Bord der Ocean Viking wird dann als Notaufnahme umfunktioniert. Das übergeordnete Ziel des “Mass Casualty Plan” ist zunächst, dass alle geretteten Personen den Rettungseinsatz überleben. Die Besatzung wird vorher gründlich auf diese Art der Rettung vorbereitet. Vor Einsatzbeginn werden verschiedene Rettungsabläufe und Erste Hilfe Maßnahmen geübt, um sicherzustellen, dass sie im Ernstfall reibungslos durchgeführt werden können.

Medevac

Medevac  bezeichnet eine medizinische Evakuierung. Dies ist dann notwendig, wenn sich eine gerettete Person in einem kritischen Zustand befindet und das medizinische Team an Bord nicht in der Lage ist, die erforderliche Versorgung zu leisten. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn ein Mensch bewusstlos ist und auch durch Erste Hilfe Maßnahmen sein Bewusstsein nicht wiedererlangt. In solch einem Fall beantragt die Besatzung der Ocean Viking bei den zuständigen Behörden eine medizinische Evakuierung. Die Person wird dann, meist per Helikopter, in ein Krankenhaus gebracht, wo sie adäquat versorgt werden kann.  

Weitere Informationen über verschiedene Aspekte der medizinischen Versorgung von Geretteten an Bord der Ocean Viking können hier nachgelesen werden:  

An Bord der Ocean Viking – Unsere Expert*innen-Teams

Mentale Gesundheit von Überlebenden

Versorgung und Betreuung von Überlebenden sexualisierter Gewalt

Bericht von Marina, Hebamme an Bord

Post Rescue – Versorgung an Deck