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Mehr als vier Bootsunglücke in einem Monat

23
March
2023

Mehr als vier Bootsunglücke in einem Monat infolge bewusster politischer Entscheidungen Europas, während Seenotrettung weiter kriminalisiert wird

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Mehr als vier Bootsunglücke in einem Monat

23
March
2023

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Mehr als vier Bootsunglücke in einem Monat infolge bewusster politischer Entscheidungen Europas, während Seenotrettung weiter kriminalisiert wird

[14.02 – 14.03.23] Die folgende Veröffentlichung von SOS MEDITERRANEE soll einen Überblick über die Ereignisse der letzten Wochen im zentralen Mittelmeer geben. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll übersichtsartig über Seenotrettung und damit zusammenhängende Themen in dem Gebiet informieren, in dem wir seit 2016 im Einsatz sind. Für die Zusammenstellung stützen wir uns auf öffentliche Berichte verschiedener NGOs, internationaler Organisationen und der internationalen Presse.

Mehr als vier Bootsunglücke in einem Monat bei offensichtlich unzureichender Koordination und Mangel an Such- und Rettungsdiensten

Am 14. Februar starben mindestens 73 Menschen bei einem Schiffsunglück vor der libyschen Küste. Sieben Überlebende wurden in extrem schlechtem Zustand in ein libysches Krankenhaus gebracht.

Eine Woche später, am 26. Februar, ereignete sich eine weitere Tragödie im zentralen Mittelmeer, diesmal in italienischen Hoheitsgewässern. Bei einem Schiffsunglück in Cutro an der süditalienischen Küste Kalabriens kamen mindestens 98 Menschen ums Leben oder sind verschollen, darunter auch Kleinkinder und Säuglinge. Das Boot war vier Tage zuvor mit über 200 Menschen an Bord von der türkischen Küste abgefahren und sank, nachdem es bei rauem Wetter auf Felsen aufgelaufen war. Nach verschiedenen Medienberichten und nach Angaben von Frontex sichtete Frontex das Boot einen Tag vor der Tragödie durch Luftüberwachung und leitete die Informationen an die italienischen Behörden weiter. Die italienischen Behörden leiteten statt einer Such- und Rettungsaktion eine Strafverfolgungsmaßnahme ein, für die sie lediglich zwei Patrouillenboote der italienischen Finanzaufsicht entsandten, die schließlich aufgrund der Wetterbedingungen in den Hafen zurückkehren mussten. Mehr als 40 italienische und europäische Verbände der Zivilgesellschaft reichten bei der Staatsanwaltschaft des Gerichts von Crotone eine Sammelklage ein, in der sie eine Untersuchung des Schiffbruchs von Cutro forderten, um die Verantwortung von Frontex und der italienischen Behörden für den Tod dieser Menschen zu klären.

Am 11. März starben im zentralen Mittelmeer 30 weitere Menschen bei einer extrem verzögerten Rettungsaktion, nachdem die zuständigen Seebehörden die Suche nach dem Seenotfall nicht rechtzeitig koordiniert hatten. Die zivile Hotline für Boote in Seenot Alarm Phone und das Flugzeug Seabird 2 der deutschen NGO Sea-Watch sendeten jeweils Stunden vor der Tragödie mehrere Notrufe an alle zuständigen Seebehörden. Bereits am Abend des 10. März hatte Alarm Phone einen Notruf für ein Boot mit 47 Menschen an Bord vor der libyschen Küste abgesetzt und die zuständigen Seebehörden informiert. Handelsschiffe befanden sich in der Nähe des in Seenot geratenen Bootes, waren aber nach Angaben von Alarm Phone und der deutschen Seenotrettungsorganisation Sea-Watch nicht angewiesen, einzugreifen. Nach den von Alarm Phone und Sea-Watch rekonstruierten Beweisen „könnten die 30 Menschen, die ums Leben kamen, noch am Leben sein, wenn die italienischen und maltesischen Behörden sich nur dazu entschlossen hätten, sofort eine angemessene Rettungsaktion zu koordinieren.“  

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hat seit dem 14. Februar 2023 248 Todesfälle durch Bootsunglücke im zentralen Mittelmeer verzeichnet. Das Ausmaß der Katastrophe in diesem Meeresabschnitt wird aller Wahrscheinlichkeit nach stark unterschätzt, da vermutlich zahlreiche Schiffbrüche ohne Zeugen bleiben. In vielen Fällen hätten diese Leben gerettet werden können, wenn Such- und Rettungseinsätze im Mittelmeer effizient koordiniert würden und wenn Europäische Staaten Such- und Rettungseinsätzen in internationalen Gewässern nicht eingestellt hätten.

Zunehmende Kriminalisierung von NGO-Schiffen führt zu Kritik von UN und europäischen Behörden  

NGO-Schiffe füllen weiterhin die Lücke, die die europäischen Mitgliedstaaten im zentralen Mittelmeer hinterlassen haben. Nach dem neuen italienischen Dekret, das am 15. Februar in nationales Recht umgewandelt wurde, werden weit entfernte Orte für die Ausschiffung von Überlebenden zugewiesen und Rettungsschiffe stehen unter scharfer Beobachtung. Internationale Organisationen wie der Europarat und das UN-Menschenrechtsbüro äußerten ihre Besorgnis über dieses Vorgehen, das die lebensrettende Hilfe im Mittelmeer behindert. Darüber hinaus forderte EU-Menschenrechtskommissarin Mijatović die italienischen Behörden erneut auf, die Zusammenarbeit mit der libyschen Regierung bei Abfangmaßnahmen auf See auszusetzen. Im vergangenen Monat sind 1.484 Menschen gewaltsam nach Libyen zurückgebracht und dort systematisch in willkürliche Haft genommen worden.  

Am 14. Februar evakuierte das Team der Ocean Viking 84 Menschen, darunter 58 unbegleitete Minderjährige, aus einem überfüllten Boot, das in internationalen Gewässern vor Libyen in Seenot geraten war. Ravenna in Norditalien wurde direkt als Ausschiffungshafen zugewiesen, vier Tagesreisen von dem Rettungsort entfernt.  

Am 16. Februar rettete das Team der Aita Mari der NGO Salvamento Maritimo Humanitario 31 Menschen. Die Anlandung fand nach drei Tagesfahrten in Civitavecchia statt. Am 21. Februar rettete das Team der Aita Mari im zentralen Mittelmeer 40 Menschen aus einem Metallboot und kam einem weiteren Boot zur Hilfe, dessen Insassen schließlich von der italienischen Küstenwache gerettet wurde. Die Überlebenden konnten am 25. Februar im 750 Seemeilen (1389 km) entfernten Ortona an Land gehen.

Am 16. Februar rettete das Team der Life Support der italienischen NGO in zwei Rettungseinsätzen insgesamt 156 Menschen aus Seenot. Der Hafen von Civitavecchia wurde für die Anlandung der Überlebenden zugewiesen. Am 7. März konnte das Rettungsteam der Life Support bei einem weiteren Einsatz 105 Menschen von einem in Seenot geratenen Schlauchboot retten. Brindisi, eine italienische Hafenstadt an der Adria, wurde für die Ausschiffung der Überlebenden zugewiesen.

Am 17. Februar konnten 48 Überlebende, die vom Team des Rettungsschiffs Geo Barents von Ärzte ohne Grenzen (MSF) gerettet wurden, in Ancona an Land gehen. Eine Woche später, am 23. Februar, wurde die Geo Barents von den italienischen Behörden für einen Zeitraum von 20 Tagen in festgesetzt und mit einer Geldstrafe von 10.000 € belegt. Nach Informationen von Rai News erklärt Ärzte ohne Grenzen, dass „die Hafenbehörde von Ancona die medizinische Hilfsorganisation aufgrund des neuen Dekrets anfechtet, weil sie nicht alle angeforderten Informationen vorgelegt hat“. Es war das erste Mal, dass ein ziviles Rettungsschiff unter dem zu Beginn des Jahres ratifizierten italienischen Dekret festgesetzt und mit einer Geldstrafe belegt wurde.

Anstieg der Ankünfte in Italien auf dem Seeweg in den letzten zwei Wochen, hauptsächlich aus Tunesien  

Nach Angaben des italienischen Innenministeriums haben seit Anfang März mehr als 20.000 Menschen Italien über den Seeweg erreicht. Einige schafften es ohne Hilfe, andere wurden von der italienischen Küstenwache, Handelsschiffen oder NGO-Schiffen gerettet. In den ersten zwei Monaten des Jahres 2023 wurden nur 7,7% der Menschen, die Italien auf dem Seeweg erreichten, von NGO-Schiffen gerettet, wie Forscher Matteo Villa herausfand.

Die Daten zeigen, dass der Anstieg der Ankünfte in Italien vor allem auf die politische Situation in Tunesien zurückzuführen ist, da Menschen aus Ländern südlich der Sahara nach den brutalen Falschanschuldigungen von Präsident Kaïs Saïed am 21. Februar zunehmend zur Zielscheibe von Anschlägen und Übergriffen im Land werden. Auch Tunesier*innen, die bedürftige Menschen aus dem Ausland beherbergen, müssen mit fünfzehn Tagen Gefängnis und einer Geldstrafe rechnen. Nach Angaben eines freiberuflichen Journalisten in Tunesien warten Hunderte von Menschen vor den Büros der Vereinten Nationen um in ihr Herkunftsland zurückkehren zu können – bisher vergeblich.

Foto: Jérémie Lusseau / SOS MEDITERRANEE

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