Yannik berichtet von der Ocean Viking
Am Nachmittag des 29. Oktober erhalten wir von Alarmphone die Nachricht von einem Holzboot in Seenot vor der westlichen libyschen Küste.
Yannik berichtet von der Ocean Viking
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Am Nachmittag des 29. Oktober erhalten wir von Alarmphone die Nachricht von einem Holzboot in Seenot vor der westlichen libyschen Küste.
Ein 13 Stunden entfernter Seenotfall
Am Nachmittag des 29. Oktober erhalten wir von Alarmphone [1] die Nachricht von einem Holzboot in Seenot vor der westlichen libyschen Küste. Der letzte Standort des Bootes ist jedoch 13 Stunden Fahrt von uns entfernt. Unsere geschätzte Ankunftszeit: 3:00 Uhr morgens. Um 21:00 Uhr gehe ich ins Bett, kann aber nur schwer einschlafen.
Ich wache um 7:50 Uhr auf. Keine Rettung. Ich kämpfe mich durch die Nachrichten in unserem Chatverlauf, um die Situation zu verstehen. Noch bevor ich ihn zu Ende lese, ertönt durch mein Funkgerät die Durchsage „All teams: ready for rescue! Wir haben Blickkontakt zu dem gesuchten Boot.“ Dann geht alles ganz schnell. Jede*r schlüpft in das Equipment, die Leute eilen zu ihren Einsatzstationen. Die drei Rettungsschnellboote werden zu Wasser gelassen und fahren zum Boot in Seenot. Von Bord der Ocean Viking ist das blaue Holzboot nur ein kleiner Punkt am Horizont, der ab und zu zwischen den Wellen auftaucht und dann wieder verschwindet.
25 Gerettete an Bord der Ocean Viking
Meine Aufgabe besteht darin, den Geretteten nach der Registrierung durch unsere Kolleg*innen des IFRC’s[2], ihre Rescue Kits zu übergeben und ihnen zu erklären, was als nächstes passiert. Das Rescue Kit enthält saubere Klamotten, ein Handtuch, eine Zahnbürste, eine Wasserflasche und Kekse. Ich hatte genug Zeit meine Station vorzubereiten. Die Abläufe haben wir in den Tagen zuvor ausgiebig abgesprochen. Ich bin bestens vorbereitet.
Auf einmal sind die Geretteten an Bord und ich fühle mich überhaupt nicht mehr vorbereitet. Männer mit leeren, traumatisierten Gesichtern taumeln auf mich zu – können sich nach vier Tagen auf See kaum halten und stolpern über Deck. Nachdem sie registriert wurden, nehmen sie auf einer Bank neben meiner Station Platz. Sie sind extrem erschöpft und können anscheinend noch nicht wirklich realisieren wie ihnen geschieht. Nach einigen Minuten verändern sich die Gesichtszüge der Überlebenden. Sie fangen an zu begreifen, dass sie gerettet wurden. Die Ersten lächeln mir zu, zeigen ihre ausgestreckten Daumen. Meine Aufgeregtheit legt sich.
“Jede Stunde habe ich 100-mal den Tod gesehen”
Die Geretteten sind fast ausschließlich Ägypter. Glücklicherweise habe ich für eine gewisse Zeit in Kairo gelebt. Ich führe Konversationen, die ich in Ägypten tausendmal geführt habe: „Herzlich Willkommen, ich bin Yannik. Wie geht’s dir? Freut mich dich kennenzulernen.“ Den wichtigsten Satz habe ich während meiner Zeit in Ägypten jedoch nie gelernt. Unsere kulturelle Mediatorin hat ihn mir einige Tage zuvor beigebracht: „Du bist in Sicherheit“. Ich gebe den Überlebenden ihre Rescue Kits, erkläre deren Inhalt und bringe sie zur Dusche. Häufig sammelt sich im Inneren der Boote in Seenot ein Gemisch aus Salzwasser und Kraftstoff. Diese Flüssigkeit führt zu schweren Verätzungen auf der Haut. Deshalb ist es wichtig, dass die Überlebenden so schnell wie möglich duschen.
Nachdem alle geduscht haben, gibt es eine Willkommensrede, in der wir uns vorstellen und die Situation an Bord der Ocean Viking erklären. Ich genieße die positive Stimmung der nächsten Stunden. Die Menschen sind unfassbar dankbar und lassen mich das bei jeder Gelegenheit spüren. Wir unterhalten uns und trinken Tee. Sie erzählen mir von ihrer Überfahrt und acht Meter hohen Wellen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie acht Meter hohe Wellen gesehen haben. Aber auch eine drei Meter hohe Welle kann wie acht Meter wirken. Und ist auf jeden Fall hoch genug, ein überfülltes Holzboot zum Kentern zu bringen. „Jede Stunde habe ich 100-mal den Tod gesehen“ erzählt mir einer der Geretteten. “Der Mann, der uns auf das Boot gebracht hat, wollte das wir sterben“. Und auch wenn er das vielleicht nicht unbedingt wollte, war es ihm offensichtlich egal, ob sie überleben oder nicht.
Einseitige Vorfreude
Schon am nächsten Morgen kehrt etwas Alltag in das Leben an Bord. Ein Geretteter, der die Nacht in der Bordklinik verbringen musste, kommt zurück zur Gruppe und wird herzlichst empfangen. Unser Team an Bord versucht die Menschen bestmöglich zu beschäftigen. Das Sticken von Armbändern scheint erstaunlich beliebt unter den ägyptischen Männern. Auffällig häufig finden sich die Farben der italienischen Tricolore in den Armbändern wieder. Am letzten Tag an Bord organisiert Filipo aus dem Rettungsteam einen Italienischkurs. Voller Freude hallen lauthals Wörter wie „BUONGIORNO“ und „ARRIVEDERCI“ über das Schiff. Die Vorfreude auf Italien ist riesig unter den Geretteten.
Leider befürchte ich, dass sich der italienische Staat nicht gleichermaßen auf sie freut. Wenige Tage zuvor hat Italiens Regierung Ägypten per Dekret zu einem sicheren Herkunftsland erklärt. Dies soll es ermöglichen Migrant*innen aus Ägypten leichter abzuschieben und ihre Asylprozesse in Drittstaaten wie Albanien abzuwickeln. Der Gedanke an das, was ihnen bevorsteht trübt meine Stimmung. Ob die Geretteten wissen, wie schwer sie es wahrscheinlich haben werden? Ich versuche mein Gewissen damit zu beschwichtigen, dass alles besser ist, als zu ertrinken. Wenigstens sind sie noch am Leben.
“ARRIVEDERCI!”
Ich mische mich unter die euphorisierte Gruppe. In wenigen Stunden werden die Geretteten an Land gehen. Es läuft ägyptische Musik und es wird ausgelassen getanzt. Einer der Überlebenden hat Geburtstag. Er erzählt mir, es sei der schönste Geburtstag, den er je hatte. Und der erste Geburtstag in seinem neuen Leben.
Am Abend des 1. November können alle 25 Geretteten in Civitavecchia an Land gehen. Wir spielen laut Musik, Umarmen uns zum Abschied und jubeln ihnen zu als sie von Bord gehen. Ein junger Ägypter dreht sich noch einmal um und ruft stolz “ARRIVEDERCI!”.
1 AlarmPhone: eine NGO, bei der Menschen in Seenot anrufen können. Die NGO leitet die Notrufe dann an staatliche und zivile Stellen weiter.
2 Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften
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